Hätten Pelé, Diego Maradona und Zinedine Zidane auch dann Fussballgeschichte geschrieben, wenn sie nicht unmittelbar an den größten Erfolgen ihrer Nationalmannschaft beteiligt gewesen wären? Ein Blick nach Dänemark genügt, um festzustellen, dass Talent und Genie tatsächlich unabhängig von Erfolgen und Titeln sein können. Denn Michael Laudrup, Dänemarks bester Fussballer aller Zeiten, "schaffte" es, den historisch größten Erfolg seines Landes zu verpassen. Andererseits hat er im dänischen Fussball einen weitaus nachhaltigeren Eindruck hinterlassen als seine Landsleute, die bei der UEFA EURO 1992 Europameister wurden.
"In den 60er Jahren war Pelé der beste Fussballer. In den 70er Jahren war es Cruyff. In den 80er Jahren war es dann Maradona. Und in den 90er Jahren war es Laudrup." Auch wenn dieser Satz diskussionswürdig scheinen mag – die Tatsache, dass er aus dem Munde von Franz Beckenbauer stammt, verleiht ihm einiges Gewicht.
Einiges Gewicht hatte auch die Bürde, die einst auf den Schultern von Michael Laudrup und seines jüngeren Bruders Brian lastete, als sich beide für den Fussball entschieden. Schließlich entstammen sie einer klassischen Fussballfamilie. Da ihr Vater Finn Laudrup früher in der dänischen Nationalmannschaft spielte und ihr Onkel Ebbe Skovdal erfolgreich als Trainer arbeitete, blieb den Brüdern Laudrup fast gar nichts anderes übrig, als selbst einmal erfolgreich Fussball zu spielen. Zum Glück, wie man heute weiß, war genau das auch das Ziel, das sich damals Michael Laudrup gestellt hatte. Und der Däne bewies dabei von Beginn an einen starken Charakter. Bereits als 13-Jähriger hatte er den Mut, ein Angebot von Ajax Amsterdam auszuschlagen. Stattdessen folgte er seinem Vater, der gerade zu Kjøbenhavns Boldklub, dem Vorgänger des FC Kopenhagen, gewechselt war. Im Übrigen war Michael damals der Meinung, dass es noch zu früh sei, um ins Ausland zu gehen und er sich erst einmal in seiner Heimat durchsetzen müsse.
Nachdem er seine Worte in Taten umgesetzt hatte und bei Brøndby IF mit gerade einmal 18 Jahren zum besten Spieler der dänischen Liga gekürt worden war, demonstrierte er ein weiteres Mal seine Charakterstärke, indem er erneut einen Wechsel zu einem legendären Klub ablehnte. "Ich hatte mit Vertretern des FC Liverpool eine Vereinbarung über einen Dreijahres-Vertrag getroffen", so der dänische Ballzauberer wenige Jahre nach dem Ende seiner Karriere. "Vom Kopf her war damals alles entschieden. Ein paar Tage später kamen diese Leute mit dem gleichen Angebot noch einmal auf mich zu. Allerdings wollten sie dieses Mal einen Vertrag über vier Jahre festschreiben. Zur Begründung meinten sie, dass ich noch sehr jung sei und ich daher einige Zeit brauchen würde, um mich entsprechend weiterzuentwickeln. Ich empfand das als eine Enttäuschung, so dass ich mich entschloss, nicht nach Liverpool zu wechseln. Wir hatten zwar zuvor noch nichts unterschrieben, aber eine Vereinbarung ist eine Vereinbarung. Also müssen sich die Leute auch daran halten."
Die Klubverantwortlichen von Juventus Turin hingegen wussten, was sie wollten, als sie die Gelegenheit beim Schopfe packten und das dänische Nachwuchstalent im Juni 1983 unter Vertrag nahmen. Obgleich diesmal alles ordnungsgemäß abgelaufen war, musste Laudrup zunächst auch in Turin Lehrgeld bezahlen. Angesichts der schier übermächtigen Konkurrenz im Juve-Team – mit Michel Platini und Zbigniew Boniek war die Zahl der damals zugelassenen Ausländer bereits erreicht – wurde der junge Däne erst einmal an Lazio Rom ausgeliehen, das gerade in die Serie A aufgestiegen war. Dort machte Laudrup auf Anhieb mit seinen millimetergenauen Pässen und seinen präzise getretenen Freistößen auf sich aufmerksam und brachte es in zwei Spielzeiten auf neun Tore. Nachdem Boniek Juve verlassen hatte, war der Weg für Laudrup frei, so dass auch er endlich bei den "Großen" mitmischen konnte.
Fortan spielte Laudrup an der Seite von Platini auf der Position des Polen und wurde mit Juventus Turin gleich in seiner ersten Saison (1986) italienischer Meister. Zudem gewann er im gleichen Jahr den Interkontinental-Pokal. Es war die Zeit, als er den Grundstein für seine überaus beeindruckende Karriere legte, die ihn schon bald zu einem genialen Fussballer machte, der sein absolutes Limit jedoch nie erreichte. "Ich habe gegen Maradona, Platini und Baggio gespielt. Aber derjenige, der imstande war, auf dem Platz die unglaublichsten Dinge zu machen, ist Michael Laudrup", erinnerte sich Italiens Ex-Nationalspieler Roberto Galia, der mit dem Dänen in dessen letzter Saison in Turin in einer Mannschaft gespielt hatte. Auch Platini bestätigte diese Aussage, denn in den Augen des früheren Spielmachers der Bleus ist "Laudrup eines der größten Talente aller Zeiten." "Jedenfalls war er der weltweit beste Spieler im Training. In den Spielen selbst hat er seine Klasse indes nie ganz ausgeschöpft. Michael hatte alles, außer einer einzigen Eigenschaft, und die heißt Selbstsucht…"
Dachte Laudrup demnach zu sehr an die anderen? Jedenfalls war es genau dieser uneigennützige Charakterzug, der Johan Cruyff, damals Trainer des FC Barcelona, dazu bewog, Michael Laudrup an der Seite des bulgarischen Torjägers Hristo Stoichkov spielen zu lassen. Unter dem Niederländer als Coach avancierte der Däne zum genialen Spielmacher und Stoichkov zum gefürchteten Vollstrecker der Katalanen, während sich Barça selbst von einer traditionsreichen zu einer legendären Klubmannschaft entwickelte. Allein zwischen 1990 und 1994 holten Laudrup und Co. vier spanische Meistertitel sowie einen Triumph in der UEFA Pokal der Landesmeister, was ihnen für alle Ewigkeit den Beinamen Dream Team bescherte.
Es folgten Zeiten, in denen es für den Dänen nicht mehr ganz so gut lief. So musste er 1994 im Finale der UEFA Champions League gegen den AC Mailand von der Ersatzbank aus zusehen, wie die Italiener ebenso überraschend wie souverän einen klaren 4:0-Sieg über sein Team landeten. "Laudrup war der von mir am meisten gefürchtete Gegenspieler. Es war Cruyffs Fehler, ihn auf die Ersatzbank zu setzen", so der Kommentar von Fabio Capello, der damals den AC Mailand als Trainer betreute, unmittelbar nach dem gewonnenen Finale.
Viel mehr Enttäuschung bedurfte es allerdings nicht, um den Ehrgeiz eines Fussballers wie Laudrup zu wecken, der noch wenige Jahre zuvor die Stirn gehabt hatte, Angebote von Ajax Amsterdam und des FC Liverpool abzulehnen. Seine Antwort auf das verpasste Finale in der europäischen Königsklasse kam prompt. Auch wenn ihn die katalanischen Fans längst ins Herz geschlossen hatten, unterschrieb Laudrup beim Erzrivalen Real Madrid. "Das hat nichts mit Rache zu tun", ließ er seinerzeit verlauten. "Meine Zeit bei Barça ist beendet, so wie übrigens auch die des Dream Team. Ich bin deshalb nach Madrid gegangen, weil ich in einer Mannschaft spielen möchte, die in der Lage ist, Meister zu werden. Und ich wollte in Spanien bleiben."
Am Ende der folgenden Saison hatte er dieses Ziel auch schon erreicht, denn mit Real Madrid holte er 1995 auf Anhieb den spanischen Meistertitel. Die perfekte Revanche gelang Laudrup dann im Clásico gegen seinen Ex-Klub, den die Königlichen mit 5:0 für sich entschieden, nachdem sie ein Jahr zuvor mit dem gleichen Ergebnis im Camp Nou das Nachsehen gehabt hatten. Für Michael geriet diese Partie, in der er unter anderem die Vorarbeit zu einem der drei Treffer von Ivan Zamorano leistete, zu einem der besten Spiele seiner Karriere überhaupt. "Der Grund dafür, dass ich für Real Madrid so viele Tore geschossen habe, ist Laudrup!", so die anerkennenden Worte des Chilenen über seinen früheren Mitspieler.
Nach zwei Jahren in der spanischen Hauptstadt hatte der damals 32-Jährige vielleicht schon daran gedacht, seine aktive Laufbahn ausklingen zu lassen. Zumindest sein Wechsel zum japanischen Klub Vissel Kobe in die noch junge J.League schien darauf hinzudeuten. Angesichts seiner sechs Treffer in 15 Pflichtspielen der Saison 1996/97 kam der dann aber doch zu dem Schluss, dass er durchaus noch fit genug sei, um auch auf dem Alten Kontinent auf höchstem Niveau zu spielen. Und das Schicksal wollte es, dass er ausgerechnet bei dem Klub landete, dem er zwei Jahrzehnte früher einen Korb gegeben hatte. Laudrup unterschrieb also bei Ajax Amsterdam, wo er seine Karriere mit dem Gewinn des niederländischen Meistertitels beendete.
Die Fehler aus der Jugendzeit indes erweisen sich nicht immer als reparabel, und der legendäre Status von Michael Laudrup hätte sicher auch nie ein solches Ausmaß angenommen, wenn da nicht sein gespaltenes Verhältnis zur dänischen Nationalmannschaft gewesen wäre. Sicher, der geniale Mittelfeldakteur war mit Dänemark bei drei Auflagen der UEFA EURO (1984, 1988 und 1996) vertreten und stand im dänischen Nationalteam, das 1995 den FIFA Konföderationen-Pokal gewann. Auch gehörte er zur Mannschaft des legendären Danish Dynamite, die bei ihrer ersten WM-Teilnahme in Mexiko 1986 für Furore sorgte. Und sicher ist auch, dass er bei jenem WM-Turnier im letzten Gruppenspiel Uruguay, in dem die Nordeuropäer klar mit 6:1 die Oberhand behielten, einen herrlichen Treffer erzielte.
Doch all diese Erfolge treten zwangsweise etwas in den Hintergrund, sobald man sie seinem Entschluss, sich während der Qualifikation für die UEFA EURO 1992 aus der Nationalmannschaft seines Landes zurückzuziehen, entgegenstellt. Nach einer 0:2-Niederlage gegen Jugoslawien sowie wegen Meinungsverschiedenheiten in taktischen Fragen mit dem damaligen Nationaltrainer Richard Møller Nielsen warf Laudrup kurzerhand das Handtuch und verkündete, nie wieder unter Møller Nielsen im Nationaltrikot auflaufen zu wollen. Eine äußerst unglückliche Entscheidung, wie sich bald herausstellen sollte. Denn trotz verpasster EM-Qualifikation konnte Dänemark doch noch an der kontinentalen Meisterschaft teilnehmen, da Jugoslawien inzwischen von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen worden war. Und als Trainer fungierte weiterhin Møller Nielsen.
Was dann folgte, ist bekannt. Ein dänisches Auswahlteam, dessen Spieler bereits im Urlaub waren und in buchstäblich in letzter Minute zusammengetrommelt werden konnten, reiste nach Schweden, um dort einen Sieg nach dem anderen zu landen und schließlich Europameister zu werden. Und ausgerechnet der beste dänische Spieler aller Zeiten war in der ruhmreichsten Stunde des dänischen Fussballs nicht mit von der Partie!
Im Jahr 1993 gab Laudrup dann dem Druck der Öffentlichkeit nach und erklärte sich bereit, doch wieder für Dänemark und auch unter Møller Nielsen als Trainer zu spielen. "Eigentlich wollte ich diesen Entschluss, den ich ja bewusst gefasst hatte, nicht rückgängig machen. Andererseits wollte ich aber auch wieder in der Nationalmannschaft spielen! Und was den Trainer anbelangt, so kam es zu einer gegenseitigen Annäherung. Der Mannschaft selbst fehlte es an der nötigen Disziplin. Ich persönlich fühlte mich nicht in der Lage, die in mich gesetzten Erwartungen – ich sollte als Führungsspieler die Verantwortung übernehmen – zu erfüllen. Bei Barça habe ich mich dennoch zum Führungsspieler entwickelt, und am Ende bin ich mit dieser Rolle auch ganz gut zurechtgekommen."
Den letzten seiner insgesamt 104 Einsätze im Nationaltrikot bestritt Laudrup im Viertelfinale des FIFA WM-Turniers 1998 in Frankreich gegen Brasilien. Nachdem sich die Europäer über weite Strecken der Partie als ebenbürtiger Gegner erwiesen hatten, unterlagen sie am Ende dem damals amtierenden Weltmeister mit 2:3. Unmittelbar nach dem Schlusspfiff sprach der Kapitän des unterlegenen Teams das aus, was ganz Dänemark befürchtet hatte. "Das war das letzte Spiel meiner Karriere", und fügte sogleich hinzu: "Aber es war auch eines der besten, vielleicht sogar das allerbeste."
Das beste Spiel überhaupt, auch wenn es mit einer Niederlage endete. Treffender könnte man das Ende der Karriere eines ungekrönten Königs wohl kaum umschreiben.
Vereine: KB, Bröndby Kopenhagen, Juventus Turin, Lazio Rom (Ausleihe), FC Barcelona, Real Madrid, Vissel Kobe, Ajax Amsterdam
Erfolge: 1x Italienischer Meister (1985/86) 5x Spanischer Meister (1990/91, 1991/92, 1992/93, 1993/94 und 1994/95) 1x Niederländischer Meister (1997/98) 1x Europapokalsieger (1992) 1x Interkontinental-Pokalsieger (1985) 1x Europäischer Super Cup-Sieger (1992) 1x Spanischer Pokalsieger (1990) 1x Niederländischer Pokalsieger (1998) Dänemarks Spieler des Jahres 1982 und 1985 Dänemarks bester Spieler aller Zeiten Bester ausländischer Spieler in Spanien zwischen 1974 und 1999
Nationalmannschaft: 104 Länderspiele (37 Tore)
Erfolge mit der Nationalelf: FIFA Konföderationen-Pokal 1995